Kontinuitäten des Antisemitismus. Ein Statement des AK Gedenkrundgang.

Seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat Antisemitismus eine neue Sichtbarkeit gewonnen. Wie in vielen anderen Städten gab es auch in Wien Demonstrationen, die den Mord an mehr als 1.200 Israelis – weit überwiegend Zivilist:innen – und die Entführung von mindestens 200 Menschen feierten. Die wahllose Ermordung von Juden und Jüdinnen (und jenen, die dafür gehalten wurden) gilt islamistischen, aber auch vielen palästinensischen, anti-imperialistischen, anti-rassistischen und anti-kolonialen Aktivist:innen als Grund zur Freude.

Der offen geäußerte eliminatorische Antisemitismus der Hamas, die bereits in ihrer 1988 veröffentlichten Charta ganz offen die Ermordung aller Juden und Jüdinnen als Ziel formulierte, wird dabei entweder ebenso offen und begeistert geteilt oder zu einer Folge der israelischen Politik gegenüber den Palästinenser:innen umgedeutet und damit entschuldigt. Es sind keineswegs nur arabische oder muslimische Aktivist:innen, die hier einstimmen. In zig-Tausenden Postings auf Social Media zeigt der sogenannte Anti-Zionismus weiter Teile der Linken sein antisemitisches Gesicht. Selbst manche feministische und queere Aktivist:innen, die doch sehr genau wissen müssten, dass eine freie palästinensische Gesellschaft niemals mit, sondern nur gegen islamistische Gruppen wie die Hamas gelingen kann, verteidigen oder verharmlosen den antisemitischen Massenmord.

Angriffe in mehreren europäischen Städten – u.a. ein versuchter Brandanschlag auf eine Synagoge in Berlin und ein Anschlag auf den jüdischen Friedhof in Wien – machen deutlich, dass es den Antisemit:innen mitnichten um die israelische Politik, sondern vielmehr um den Hass auf Juden und Jüdinnen überall auf der Welt geht. Wie bedrohlich die Situation ist, zeigt auch der Aufruf der IKG, bei der Anfahrt zu israel-solidarischen Demonstrationen in Wien Fahnen, Schilder und Ähnliches zu verdecken, um nicht Opfer von Angriffen zu werden. Die Vorsicht ist angesichts der Gewalttaten mehr als verständlich, es ist jedoch erschreckend, wie gefährlich es heute ist, sich als jüdisch oder auch nur als solidarisch mit den Angegriffenen zu erkennen zu geben.

Antisemitismus – bei diesem Wort denken viele zunächst an den Nationalsozialismus und an die Shoah, also die mit industrieller Rationalität geplante und betriebene Vernichtung aller Jüdinnen und Juden, die den unfassbaren Höhepunkt antisemitischer Gewalt darstellte und nur durch die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg beendet wurde. Doch genauso wenig wie der Antisemitismus mit den Nazis begann, endete er nach 1945. „Das Gerücht über die Juden“, wie der Philosoph und Soziologe Theodor Adorno den Antisemitismus einmal nannte, verbreitet sich auch heute rasend schnell. Nicht zuletzt im Internet, wo nicht nur israelfeindlicher Antisemitismus, sondern auch antisemitische Verschwörungsmythen über Migration, Covid oder den Klimawandel zirkulieren.

Die Daten im Bericht der Antisemitismus-Meldestelle der IKG für das Jahr 2022 – die freilich nur gemeldete Fälle umfassen, so dass von einer wesentlich höheren Dunkelziffer auszugehen ist – zeichneten bereits vor der aktuellen Eskalation ein beunruhigendes Bild der Situation in Österreich. V.a. bedingt durch das Abflauen der Aktivitäten der Covid-Leugner:innen ging die Gesamtzahl der gemeldeten Vorfälle mit 719 gegenüber dem Höchststand von 2021 (965) etwas zurück. Zugenommen haben jedoch gerade die besonders schwerwiegenden und physisch bedrohlichen Vorkommnisse. Die Zahl physischer Angriffe stieg von 12 auf 14, die der Sachbeschädigungen von 95 auf 122. Die Zahl der Bedrohungen blieb mit 21 (2021:22) auf sehr hohem Niveau. Als besonders alarmierend bezeichnet die Meldestelle, dass es sich im Fall der physischen Angriffe häufig sowohl bei den Opfern als auch bei den Täter:innen um Kinder und Jugendliche handelte. Und schon 2022 fielen 219 Vorfälle in die Kategorie „israelbezogener Antisemitismus“.

Angesichts der aktuellen Situation wird derzeit vor allem über Antisemitismus unter Muslim:innen diskutiert und dabei ein Brücke zur Migrationspolitik geschlagen. Antisemitismus spielt eine zentrale Rolle in islamistischen Ideologien. Wir erinnern uns an das Attentat vom 2. November 2020, als ein bekennender IS-Anhänger in der Nähe des Stadttempels in der Seitenstettengasse um sich schoss, vier Menschen tötete und 23 zum Teil schwer verletzte. Und wir sehen, dass der Islam auch über den harten Kern islamistischer Aktivist:innen hinaus genutzt wird, um Hass auf Juden und Jüdinnen zu verbreiten und zu legitimieren. Diesen Tendenzen gilt es in allen europäischen Migrationsgesellschaften entschieden entgegenzutreten.

Der kritische Blick auf den muslimischen Antisemitismus darf jedoch nicht dazu benützt werden, Antisemitismus zu einem „importierten“ Problem zu erklären, das „uns“ – weiße, christlich-geprägte Österreicher:innen – nicht betreffen würde. Damit wird nicht nur Rassismus geschürt, sondern auch ein konsequente Auseinandersetzung mit Antisemitismus verunmöglicht. Denn auch das zeigen die Daten des Antisemitismus-Berichts sehr deutlich: mehr als die Hälfte der gemeldeten Vorfälle (55%) war durch rechte Ideologien motiviert, ein Fünftel (20%) durch linke Ideologien und weniger als ein Zehntel (9%) durch weltanschaulichen und/oder religiösen Islamismus (16% der gemeldeten Fälle waren nicht zuordenbar). Obwohl bei Angriffen wie auch bei Bedrohungen islamistische Täter:innen die Mehrheit stellen, zeigen die Zahlen, dass es der österreichische Rechtsextremismus ist, der der antisemitischen Gewalt den Boden bereitet – sei es durch Sachbeschädigungen, verletzendes Verhalten oder publizistisch in Form von Massenzuschriften. Beispielhaft können hier die Beschädigungen von Gedenktafeln genannt werden, bei denen sich die Täter:innen häufig durch Aufkleber oder einschlägige Beschmierungen selbst dem Rechtsextremismus zuordnen. Es ist aber auch daran zu erinnern, dass von offizieller Seite die Auseinandersetzung nicht einmal schleppend verläuft – bis heute finden sich auch in Wien Straßennamen und Denkmäler die Antisemit:innen des 19. und 20. Jahrhunderts gewidmet sind.

Die Rede vom „importierten Antisemitismus“ negiert nicht zuletzt den sogenannten sekundären Antisemitismus, der sich gerade in den Ländern der Täter:innen nicht trotz, sondern wegen Auschwitz gegen Juden und Jüdinnen richtet. Muslimischer Antisemitismus wird dabei instrumentalisiert, um jenen der Mehrheitsbevölkerung zu verharmlosen oder zu leugnen.

Doch das „Gerücht“ über die Jüdinnen und Juden ist in Österreich schon lange heimisch. Antisemitismus – egal welcher Herkunft und politischen Ausrichtung – muss immer und überall und besonders im NS-Täter:innenland Österreich bekämpft werden. Wie es Oskar Deutsch, Präsident der IKG bei der Präsentation des Antisemitismus-Berichts 2021 formulierte: „der Kampf gegen Antisemitismus ist keine jüdische Aufgabe“, sondern eine für die gesamte Gesellschaft. „Jeder ist gefordert, gegen Judenhass aufzutreten, egal ob am Stammtisch, im Fußballstadion oder in der U-Bahn“.

AK Gedenkrundgang, November 2023

Quellen: