Eine kurze Geschichte österreichischer Erinnerungskultur
Der 9. November steht für die heftigen antisemitischen Pogrome im NS-Staat von 1938, zu dem ab dem 13. März des selben Jahres verwaltungsrechtlich – als administrative Einheit „Ostmark“ – und ideologisch – im Sinne eines in Rassen-Kategorien funktionierenden Zusammengehörigkeitsgefühl von Deutschen und Österreicher_innen – auch das heutige Österreich zählte. Im gesamten deutschen Reich wurden an diesem und den Folgetagen unter begeisterter Beteiligung von Zivilpersonen jüdische Einrichtungen zerstört und gewaltsam gegen als Jüdinnen und Juden identifizierte Menschen vorgegangen.
Dieser 9. des Monats markierte einen Höhepunkt des Vernichtungsantisemitismus, der sich in Österreich bereits unmittelbar nach dem sogenannten Anschluss in gewalttätigen Pogromen geäußert hatte. Die Ereignisse widersprechen der im Österreich der Nachkriegsjahre vorherrschenden Opferthese, wonach Österreicher_innen keine Mitverantwortung für NS-Verbrechen tragen würden. Gerade der Rückzug auf die Position, Österreich sei von „Hitlerdeutschland“ überrannt und geknechtet worden, charakterisierte in den Jahren nach ’45 die offizielle Haltung. Sie prägte nicht nur ein falsches Geschichtsbild, sondern wirkte sich auch konkret auf Restitutions- und Entschädigungsfragen für NS-Opfer aus. Maßnahmen zur Rückstellung geraubten Eigentums und zur sogenannten „Wiedergutmachung“ wurden in Österreich widerstrebend, unzureichend und viel zu spät gesetzt. Zugleich etablierte sich eine parallele Gedenktradition der Ehrung und Rehabilitation von (gefallenen) Soldaten, Mitgliedern der Wehrmacht und NS-Organisationen.
Diese spezifisch österreichische Erinnerungskultur erlaubte erst Jahrzehnte nach Kriegsende eine zögerliche Aufarbeitung der Jahre zwischen 1938 und 1945 – 1986 setze die Kontroverse um die Wehrmachtsvergangenheit, die „Pflichterfüllung“ und die vermeintlichen Erinnerungslücken des Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim (sogenannte Waldheim-Affäre) eine breitere Diskussion in Gang. Durch die internationale Aufmerksamkeit und nicht zuletzt auch den Einsatz von Opferverbänden und jüdischen Organisationen rückte die maßgebliche Teilnahme von Österreicher_innen am Vernichtungsapparat des NS und ihre Aktivitäten in der Wehrmacht stärker in den Fokus. In den Geschichtswissenschaften wurde ab den 1980er Jahren das „Anschluss-Geschehen“ überwiegend nicht mehr als Okkupation „von außen“ gedeutet, sondern im Hinblick auf die breite Zustimmung der Bevölkerung und die Vorbereitung „von innen“ beleuchtet.
Heute wird der 9. November zum Anlass genommen, zumindest an runden Jahrestagen auch von staatstragender Seite der Opfer des NS zu gedenken. Das in Reden oft wiederholte Mantra „niemals zu vergessen“ findet jedoch kaum Niederschlag in konkreten politischen Handlungen, seine aktuellen Implikationen wie Aufklärung und kontinuierliche Arbeit gegen Antisemitismus und gegen die Bedingungen, die den Nationalsozialismus erst möglich machten, werden zu wenig ernst genommen. In dieser Situation wird das Bemühen, eine sensible Erinnerungskultur zu prägen, die den Opfern und nicht den Täter_innen gedenkt, hauptsächlich von jüdischen Gemeinden, Opferverbänden und antifaschistischen Gedenkinitiativen getragen.
Seit 2003 haben wir uns immer wieder als lose Gruppe in wechselnder Zusammensetzung und unter verschiedenen Namen zusammengefunden um eigene kleine, ortsgebundene Formen des Gedenkens zu finden – seit 2010 als AK Gedenkrundgang. 2003 richtete diese Plattform zum ersten Mal eine Gedenkkundgebung beim ehemaligen jüdischen Bethaus neben dem Uni-Campus im 9. Bezirk aus. Seitdem organisierten wir jährlich rund um den 9. November Spaziergänge durch Teile von Wien. Solche Rundgänge führten uns bisher durch Leopoldstadt (II. Bezirk), Favoriten (X. Bezirk), Alsergrund (IX. Bezirk), Rudolfsheim-Fünfhaus (XV. Bezirk), Mariahilf (VI. Bezirk), Wieden/Margareten (IV.&V. Bezirk), Penzing (XIV. Bezirk), Simmering (XIV. Bezirk), Landstraße (III. Bezirk), Döbling (XIX. Bezirk), Meidling (XII. Bezirk), Neubau (VII. Bezirk), Floridsdorf (XXI. Bezirk), der Josefstadt (VIII. Bezirk), Hernals (XVII. Bezirk) und Hietzing (XIII. Bezirk).
Was wir dabei vermeiden wollen, sind pompöse Inszenierungen der eigenen Gruppe oder die Instrumentalisierung jüdischer Opfer des Nationalsozialismus. Die Arbeit und der Rundgang selbst konzentrieren sich deshalb auf den Versuch, jüdische Geschichte sichtbar zu machen, an Gebäuden zu rekonstruieren, festzustellen, wo keine Spuren mehr vorhanden sind und wo sich eine bestimmte Erinnerungskultur – zum Beispiel in Form von Gedenktafeln – eingeprägt hat. Während des Rundgangs machen wir an verschiedenen Stationen Halt, die Aufschluss über jüdisches Leben geben, und lesen autobiographische Texte, Kurzberichte oder spielen Audiobeiträge ab. Viele von diesen könnt ihr hier auf dem Blog dokumentiert finden.